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«Embrace your inner Barbie»

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit – dies gilt insbesondere in der Markenführung. Wir kennen die Beispiele von Marken, die mutlos und krampfhaft ihre Markenwerte verteidigten, obwohl diese längst nicht mehr relevant sind. Dass es auch ganz anders geht, beweist Mattel mit ihrer «Barbie». Die Plastik-Ankleidepuppe war schon vor Jahrzehnten komplett aus der Zeit gefallen und viel Kritik ausgeliefert: Unrealistisches Schönheitsideal, keine Diversität, schädlicher Perfektionismus, falsches Körperbild, sexualisierte Puppe, reproduzierte Geschlechterungleichheiten, altmodisches Spielzeug. Um ernst genommen zu werden, musste frau alles ablehnen, wofür Barbie stand. Es war eigentlich Zeit für Barbie, zu gehen.

Mattel probierte viele Jahre alles für ein Barbie-Comeback, jedoch ohne Erfolg. Schon 1980 präsentierten sie die erste Barbie mit dunkler Hautfarbe und 2015 folgte eine ganze Serie von Barbies mit verschiedenen Hauttönen und Körperformen, die auch typische Männerberufe ausübten. Doch nach der Lancierung «kurviger» Barbies sanken die Verkäufe um weitere 15 %. Mattel versuchte zwar etwas in Richtung Zeitgeist, aber in der öffentlichen Meinung war dies immer zu wenig, zu spät und nicht authentisch. So schrieb das «Time Magazine» noch 2018: «Die neue Barbie mag einen feministischen Kulturwandel reflektieren, aber lass dir bloss nicht vormachen, Mattel habe mit mehr Diversität das Beste für deine Tochter im Sinn.»

Also ging Mattel nochmals grundsätzlich über die Bücher. «Warum gibt es uns überhaupt? Was hat uns eigentlich grossartig gemacht?» Dabei erkannten Sie, dass Barbie ursprünglich feministisch war: Als Barbie 1959 auf den Markt kam, war sie die erste Puppe, die Mädchen dazu ermutigte, etwas anderes als Mutterschaft anzustreben. Sie stand für Ehrgeiz und Karriere – der 1961 ins Leben gerufene Ken war neben ihr nur Staffage. Sie besannen sich auf die ursprüngliche Markenessenz, nämlich «das grenzenlose Potenzial von Mädchen zu inspirieren» – die Vision, die Ruth Handler, die Gründerin von Barbie, verfolgte, als sie die 11,5 cm grosse Puppe schuf. In dieser Haltung lancierte Mattel im Jahr 2018 zum Beispiel das «Barbie Dream Gap Projekt», eine fortlaufende Initiative, um Mädchen die Ressourcen und Unterstützung zu bieten, die sie brauchen, um an sich selbst zu glauben – Untersuchungen zeigten, dass viele Mädchen ab dem Alter von fünf Jahren beginnen, weniger an sich selbst zu glauben und denken, dass sie nicht so klug und leistungsfähig sind wie Jungen.

2019 erfolgte dann ein Rebranding, welches Barbie als Symbol für Selbstbestimmung und Selbstakzeptanz für Männer, Frauen und Kinder endgültig aus dem Dornröschenschlaf holen sollte. Die Strategie dahinter: «Embrace your inner Barbie» – jede und jeder hat Hoffnungen und Träume. Und mögen diese noch so unrealistisch klingen, sind sie wertvoll. Und weil dies nun immer noch etwas nach Plastik tönt, entschied sich Mattel zu einem fast genialen Schritt: Sie plante einen Barbie-Film, wie ihn niemand erwarten würde.

Mattel legte dafür Barbie in die Hände der Drehbuchautorin und Regisseurin Greta Gerwig, die einige feministische Referenzen mitbrachte (Lady Bird, Little Women) und erteilte der Regisseurin für den Film eine Carte Blanche, was die clevere Filmerin sehr gut zu nutzen wusste. Sie arbeitet mit Starpower, konnte aber auch die lesbische Ikone Kate McKinnon und das Trans-Model und Schauspielerin Hari Nef verpflichten, damit auch die LGBTQ+ Community Teil der Geschichte ist. Ihr Ansatz: Ein Film zu machen, der Menschen grossen Spass macht, ganz gleich, ob sie Barbie lieben oder hassen. Das daraus etwas Grosses wird, haben auch andere mitbekommen und sind auf das rosa Barbie-Cabrio aufgesprungen. Marken wie Xbox, Airbnb, Progressive, Forever 21 und Beis Travel nutzen Partnerschaften mit Barbie, um vom pinken Zeitgeist zu profitieren.

Barbie wird zum Kinoereignis des Sommers 2023 und die Online-Kommentare überschlagen sich. Watson: «Barbie ist eine Liebeserklärung an ein Produkt und alle Fantasien, die sich damit ausleben lassen. Aber auch eine vehemente Solidaritätserklärung mit der Kritik, die es entfesselt hat. Für alle Seiten gibt es viel, viel Spass. Mal ist er simpel, mal ist er intellektuell, Megakitsch trifft auf Metatext.»

Mattel gelingt mit ihrer ironischen «Demontage der Perfektion» ein absolutes Meisterstück der Markenrevitalisierung.

— Ralph Hermann / 20.7.2023