Unsinn mit Purpose
Es ist zweifellos ein Megatrend, den Unternehmens-Purpose zu formulieren. Deshalb mehren sich auch die Unternehmensberatungen, Werbeagenturen und andere Spezialisten, die für ihre Kunden rasch einen Purpose aus dem Hut zaubern. Leider zu rasch – oft bleibt in der Eile der Sinn auf der Strecke.
Der Marketingleiter von Lidl Schweiz wurde wohl auf dem falschen Fuss erwischt. In der Persönlich-Ausgabe vom 4. April gab er ausführlich Auskunft zum beeindruckenden Wachstum des Detailhandelunternehmens und wurde am Ende des Interviews mit der Frage nach dem Purpose von Lidl überrascht. Die Antwort wurde auch gleich Titel des Artikels: «Unser Purpose: das beste Preis-Leistungs-Verhältnis im Markt!» Leider ist es nicht so einfach mit dem Purpose, denn er ist mehr als ein Kundenversprechen.
Aber den besten Anschauungsunterricht dafür, wie Purpose-Entwicklung schiefgehen kann, bot diesen Frühling ein Webinar der GfM Gesellschaft für Marketing. Schmissiger Titel dieses Webinars: «Purpose boosts Performance». Ein äusserst erfolgreicher Werbe- und Medienspezialist aus Deutschland erklärte, wie es funktioniere: Bei Purpose gehe es ganz einfach um positive Psychologie. Der Psychologe und Ausschwitz-Überlebende Viktor Frankl habe bewiesen, dass sogar Ausschwitz viel besser zu ertragen gewesen sei, wenn in aussichtsloser Situation Sinn gefunden werden konnte. Autsch! Nur vier Tage später machte der Schriftsteller Adolf Muschg ebenfalls einen ungeschickten Ausschwitz-Vergleich – wenigstens wurde Muschg dann zurecht kritisiert. Das GfM-Webinar lief ohne Proteste weiter – wahrscheinlich blieb den Teilnehmenden einfach die Spucke weg. Nicht aber dem Referenten. Er fuhr fort: Es sei ganz einfach, herauszufinden, ob ein erarbeiteter Purpose auch wirklich ein Purpose sei. Man müsse diesen nur anhand der 17 UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung überprüfen. Passe der Purpose auf eines der 17 Ziele, sei Sinn gegeben. Sein Beratungsunternehmen habe so beispielsweise für Parfumeriekette Douglas in Deutschland den Sinn definiert. Dieser laute: «Wir öffnen alle Augen für die Schönheit der Einzigartigkeit, erwecken sie zum Leben und machen das Leben selbst schöner! Für eine Welt, in der sich jeder gesehen, gehört und geschätzt fühlt.»
Jetzt ist es natürlich etwas doof, dass es bei Dove seit Jahren fast identisch tönt: «Seit jeher stellt Dove weltweit gängige Schönheitsideale in Frage und engagiert sich für einen Schönheitsbegriff abseits von Alter, Kleidergrösse, Hautfarbe und anderen Äusserlichkeiten. Wir glauben, Schönheit wird nicht durch eine bestimmte Form, Grösse oder Farbe definiert – schön ist, was dich ausmacht. Authentisch. Einzigartig. Echt.»
Auch das Timing der Purpose-Lancierung von Douglas schien kein Problem zu sein. Douglas schliesst gerade 60 Filialen und entlässt 600 Angestellte, um sich mehr aufs Online-Geschäft zu konzentrieren. Wie wird wohl der Satz «Für eine Welt, in der sich jeder gesehen, gehört und geschätzt fühlt.» bei den 600 Entlassenen ankommen? Doch wichtiger schien dem Referenten die Aussenwirkung des Purpose. Stolz erläuterte er, wie aus dem Purpose eine flotte Werbekampagne wurde. Der Kampagnen-Claim: «Let’s do beautiful.» Purpose – was für ein Performance-Boost!
Purpose ist weder eine Unique Selling Proposition noch eine Unique Advertising Proposition. Deshalb bringt es wenig, wenn Kreativteams oder Marken-Gurus in sich gehen und dem Unternehmen für ihren Purpose «the big idea» abliefern. Glaubwürdig sind auch aus den 17 UNO-Zielen abgeleitete Schwurbelsätze nicht. Gut ist ein Purpose dann, wenn er für das Unternehmen hoch authentisch ist und insbesondere die Mitarbeitenden berührt und bewegt.
Vorbild für Douglas hätte die Drogeriekette «dm-drogerie markt» sein können. Das Unternehmen landete im Ranking der «Purpose Readiness Studie Deutschland 2021» auf Platz 1. Kein anderes Unternehmen in Deutschland verfügt über eine höhere Glaubwürdigkeit. Der dm-Purpose seit 1992: «Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.» Der Satz sei Ausdruck dafür, dass sich das Unternehmen in sämtlichen Beziehungen zu Kundinnen, Kunden, Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern, Handelspartnerinnen und Handelspartnern bis hin zur Umwelt konsequent dem Gedanken der «Mitmenschlichkeit und Partnerschaftlichkeit» verpflichtet fühle. Bei dm-drogerie markt arbeiten europaweit mehr als 62.500 Menschen in über 3.700 Märkten in derzeit 13 europäischen Ländern. dm-drogerie markt ist auch einer der beliebtesten Arbeitgeber. In der grössten Mitarbeiterbefragung zu „Deutschlands beste Arbeitgeber 2018“ wurde dm zur Nummer eins im deutschen Handel gewählt. Ein aktuelles Beispiel für die vielfältigen Engagements des Drogerieunternehmens sind die rund 300 dm Corona-Schnelltest-Zentren. Damit hilft dm, eine verlässliche Schnelltest-Infrastruktur in Deutschland zu etablieren, damit eine auf negativen Schnelltest-Ergebnissen basierende Öffnungsstrategie in Deutschland möglich wird.
Wahrscheinlich wäre es auch bei Douglas möglich gewesen, aus der Geschichte der 1910 in Hamburg gegründeten Parfümerie Douglas einen Purpose zu definieren, der Menschen im Unternehmen bewegt und berührt. Und wenn nicht, dann hätte man es besser bleiben lassen sollen mit Purpose.
Vor zwei Jahren veranstaltete Heads zusammen mit Perikom einen Anlass zum Thema «Purpose» Einer der Referenten war Christoph Sieder, damals ABB-Kommunikationschef und gerade «PR-Manager des Jahres». Eine seiner sehr pointierten Aussagen: Er sei kein Freund der Kommunikation von Purpose. «Dieser Seelenstriptease, der momentan stattfindet, finde ich völlig verquer und teilweise unverständlich.» Purpose sei das Innerste, was ein Unternehmen habe. Dies offensiv nach aussen zu tragen, sei fahrlässig. Und die zweite Referentin, Barbara Wicki, damals Head Organizational and Personal Development bei Cembra, überraschte mit verblüffender Offenheit und stellte die rhetorische Frage: Eine Bank mit Purpose? Eher nicht, konstatierte sie. Mit Konsumkrediten, Kreditkarten und Leasinggeschäft werde man die Welt nicht retten. Und deshalb würde Cembra sich auch nicht über einen aufgesetzten Purpose eine höhere Aufgabe andichten, sondern sich darauf konzentrieren, den Kundenbedürfnissen bestmöglich zu entsprechen.
Ein guter Purpose wird nicht erfunden, sondern gefunden. Er ist die Triebfeder des Unternehmens, etwas fast Intimes, das es sorgfältig zu ergründen gilt. Wer den Purpose formulieren und dafür zur «inneren Schönheit des Unternehmens» vordringen will, muss vor allem die richtigen Fragen stellen. So, wie es Einstein formulierte: «Hätte ich nur eine Stunde Zeit, um ein Problem zu lösen, und mein Leben von der Lösung abhinge, würde ich die ersten 55 Minuten damit verbringen, die richtige Fragen zu stellen.» Aus der vertieften Analyse über den Wesenskern und der Daseinsberechtigung des Unternehmens erfolgt dann die Formulierung in logischer Konsequenz. Diese mag dann für Aussenstehende möglicherweise banal klingen (Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.), doch die Glaubwürdigkeit und die Kraft einer solchen authentischen Aussage kann bei allen Bezugsgruppen nicht nur einen kurzfristigen Boost, sondern nachhaltig Wirkung entfalten.
Beitragsfoto: Miguel Bruna, Unsplash