Das Migros-Kind trinkt keinen Alkohol
Dass die Migros Alkohol ins Sortiment aufnehmen will, ist durchaus konsequent. Aus Sicht der Markenführung sollte sie sich diesen Schritt trotzdem gut überlegen.
Natürlich soll die Migros konstant daran arbeiten, durch den Ausbau der Convenience für den Kunden Mehrwert und für das Unternehmen Mehrumsatz zu erzielen. Für die Kundschaft ist es praktisch, wenn sie in der Migros möglichst alles findet – also auch ein gutes Weinsortiment. Trotzdem könnte es sich kontraproduktiv auswirken, wird dieses «Dutti-Tabu» gebrochen.
Dazu ein Beispiel aus einer anderen Branche, das ich vor vielen Jahren miterleben durfte: Eine Fluggesellschaft im Premium-Segment überlegte ernsthaft, ihre First Class zu schliessen. Die Finanzabteilung hatte dies gut durchgerechnet: Diese Luxus-Sitzplätze kosteten das Unternehmen ein kleines Vermögen. Und schliesslich verfügte die Fluggesellschaft ja über eine ausgezeichnete Business Class, die im freiwerdenden Raum der First Class sogar noch erweitert werden könnte. Die Zahlen sprachen für sich. Die Marketingabteilung geriet allerdings in Panik. Sie argumentierte, dass der Imageverlust gigantisch wäre und das Upgrade von Business-Class-Passagieren in die First Class ein wichtiges Mittel sei, um gut zahlende Kunden zu pflegen und zu binden. Diese Argumente verpufften in Anbetracht der potenziell riesigen Einsparungen. Doch die Marketingabteilung gab nicht auf und setzte an zu einem cleveren Move: Sie beauftragte ihre Agentur, Stimmen von First Class-Passagieren einzuholen. So erhielt ich den Auftrag, einige Vorsitzende von global tätigen Unternehmen zu interviewen – Kunden dieser Fluggesellschaft, die ausschliesslich First Class reisten, wenn sie nicht ihren eigenen Firmenjet nutzten. Die Streichung der First Class fanden sie, gelinde gesagt, keine gute Idee. Allesamt würden sie nicht mehr mit dieser Fluggesellschaft fliegen. Die per Video aufgezeichneten aufgebrachten Stimmen und roten Köpfe dieser Opinion Leaders brachten den Vorschlag der Finanzabteilung sofort zu Fall. Es wurde allen bewusst, dass die Rechnung nicht vollständig war: Die Schliessung der First Class würde nicht nur einen grossen Reputationsschaden verursachen, sondern auch die Positionierung als Premium-Airline verunmöglichen und Einbussen in der Business Class zur Folge haben. Was die Finanzabteilung als reinen Ausgabeposten bewertet hatte, wurde wieder als Investition verstanden. Diese Fluggesellschaft bietet auch heute noch eine komfortable First Class.
Die Frage, die sich nun bezüglich Migros stellt: Wäre der Entscheid für Alkohol, der aus kommerzieller Sicht auf den ersten Blick Sinn macht, letztlich nicht kontraproduktiv? Lohnt es sich für die Migros nicht mehr, sich über ihre einzigartige Geschichte zu differenzieren? In einem Gespräch mit einem Migros-Marketingmann – also nicht mit einem Migros-Finanzmann – stellte dieser die Relevanz der Migros-Differenzierung über die Gründer-Werte in Frage, als ich ihm vom Aufwachsen als Migros-Kind erzählte. Von den einmaligen Einkaufsmomenten im Migros-Wagen und von den geliebten Migros-Bireweggli, die zum Glück bis heute so geblieben sind wie damals. Und davon, wie die Attraktivität der Migros für mich immer auch mit dem genialen Gründer und dessen Werten zu tun habe und auch heute noch ein Migros-Kind in mir schlummere. Der Migros-Marketing-Mann zeigte sich wenig beeindruckt. «Das sind durchaus schöne Erinnerungen, doch das Migros-Kind hat heute keine Bedeutung mehr.» Die Geschichte der Migros biete im Wettkampf mit Coop und anderen Anbietern keinen Vorteil mehr. Es zähle nur noch Angebot, Preis und Convenience. In dieser Denkhaltung ist es nur konsequent, auch Wein ins Sortiment aufzunehmen.
Damals war ich etwas ernüchtert über die Einschätzung des Migros-Vertreters und muss eingestehen, dass ich seither auch öfters im Coop einkaufe und keinen wesentlichen Unterschied feststellen kann. Mit Blick auf die Unternehmensmarke fragt sich allerdings, ob die Migros die Differenzierung über die Gründerwerte wirklich preisgeben soll. Dies in einer Zeit, in der Bezugsgruppen Unternehmen viel gesamtheitlicher betrachten, intensiv beobachten und kontinuierlich bewerten. Andere Unternehmen investieren viel, um über eine differenzierende Sinnstiftung ihre Attraktivität für Mitarbeitende, Kunden und Gesellschaft weiter zu steigern. Das Ausspielen der differenzierenden Migros-Herkunft, und damit auch über das dem Gründer wichtige alkoholfreie Angebot als Sucht-Präventions-Beitrag, hätte durchaus Potenzial, den wesentlichen Unterschied zu machen, der Unternehmensreputation und Kundenloyalität steigern kann. Doch die Migros scheint in einer anderen Logik unterwegs: Alkohol ist keine Gefahr für das Migros-Kind – weil es nicht mehr existiert.
Nachtrag: Am 16. Juni 2022, drei Wochen nach Erscheinen dieses Artikels, kommuniziert die Migros, wie ihre Genossenschaften zum Thema abgestimmt haben. Keine der zehn Genossenschaften stimmte für eine Aufhebung des Alkoholverbots. Dies mit einem durchschnittlichen Nein-Anteil von 71%. Abgestimmt haben 630’000 Genossenschafterinnen und Genossenschafter. Das Thema ist damit vom Tisch. Die Migros war auf ein Ja und ein Nein vorbereitet; es wird kein alkoholisches Migros-Bier «Oui» geben, dafür steht voraussichtlich ab 2023 in den Migros-Filialen das alkoholfreie Migros-Bier «Non» im Regal. Das Migros-Kind lebt!