Am Ende des Funnels
Mit einem Funnel schnell viele neue Kunden gewinnen, diese auf die vorgesehene Customer Journey einspuren und am Ende von den Profitablen profitieren. Diese immer noch fleissig beworbene Mechanik scheint sich überdauert zu haben. Digital Marketing und Brand Management können in ihrer Verbindung heute wesentlich mehr erreichen.
«Lassen Sie sich helfen, Ihr Neugeschäft anzukurbeln. Mit unserer Hilfe ist es ganz einfach, neue Kunden zu gewinnen.» Bestimmt erhalten auch Sie auf LinkedIn zahllose solcher Anfragen. Oder kürzlich erreichte mich eine Einladung zu einem Webinar mit dem Thema «Effortless Marketing». Das veranstaltende Unternehmen hat den Begriff auch gleich für sich geschützt. Versprochen werden jeweils eine Menge «Leads» für den Marketing-Funnel. Kontakte, die im Funnel zu hochprofitablen Kunden werden sollen und es möglich machen, Umsatzziele zu erreichen oder zu übertreffen.
Der Funnel galt lange als Marketing-Erfolgsrezept. Das Online-Marketing-Lexikon beschreibt den Funnel (engl. für Trichter) folgendermassen: «Das Ziel liegt darin, aus einem Interessenten einen wertvollen Kunden zu machen, indem dieser mehrere Touchpoints durchläuft, um am Ende eine bestimmte Aktion auszuführen, bspw. eine Bestellung abzuschliessen. Bildlich vorgestellt kommen durch Anzeigen usw. ganz viele Interessenten in den Trichter. Unternehmen verwenden den Funnel-Ansatz auch, um neue Innovationen zu entwickeln; wenn ganz viele Ideen zusammenkommen, wird sich darunter bestimmt auch eine Idee befinden, aus der eine Innovation wird.»
Prof. em. Dr. Theo Wehner, Arbeits- und Organisationspsychologe ETH Zürich, zog am Perikom/Heads-Anlass vom vergangenen Jahr den «Innovation Funnel» in Zweifel: «Vorne kommen Herzchen rein und am Ende des Funnels sind es Margarine-Klötzchen – so linear läuft der Innovationsprozess bei Weitem nicht.»
Auch im Marketing hat sich die Idee des Funnels, im Sinne eines Einspurens potenzieller Kunden auf eine vom Unternehmen vorgesehene Customer Journey, wohl überdauert.
Schaffung von Lösungen und Werten für die Verbraucher
«The Customer Journey Doesn’t Exist … So Stop Trying To Manage It.» So argumentierte der Digitalmarketing-Spezialist Judd Marcello im Dezember 2019 im Forbes Magazine: «Kunden haben heute mehr Macht, mehr Zugang zu Informationen und mehr Medien als je zuvor. Für Vermarkter ist es nahezu unmöglich, jeden einzelnen Schritt für Tausende oder Millionen von Kunden zu verstehen. Es gibt im Grunde eine unendliche Anzahl von Schritten und Wegen, die Kunden durchlaufen können. Damit ist die Idee einer einzigen Customer Journey hinfällig geworden.»
Stattdessen, so Marcello, müsse man sich darauf konzentrieren, personalisierte Markenerlebnisse zu schaffen, die dem Kunden einen einzigartigen Gegenwert bieten. Statt eine Reise zu kreieren oder zu managen, gehe es darum, kontinuierlich Werte zu liefern, um eine dauerhafte Beziehung aufzubauen. Dies sei ein Paradigmenwechsel von der Kommunikation bei jedem Schritt hin zur Schaffung von Lösungen und Werten für die Verbraucher – unabhängig davon, wann und wo sie sich in ihrem Kaufprozess befinden. Man solle Kunden nicht in Schubladen stecken, sondern auf der Basis der von ihnen bereitgestellten Daten Erkenntnisse gewinnen und ihnen bieten, was wie wollen, wenn sie es brauchen – und auf eine Art, wie es nur die entsprechende Marke kann.
Auch Google hat sich, nicht uneigennützig, schon 2017 mit dem Thema befasst und dazu eine umfangreiche Studie verfasst. Aus dem Fazit von Google:
«Hören Sie auf, sich an den Durchschnitt zu wenden: Seien Sie nützlich. Menschen reagieren auf Marken, die ihre Bedürfnisse verstehen. Deshalb ist es wichtig, die Medien sowohl auf die Relevanz für den Verbraucher als auch auf den Lebenszeitwert für die Marke zu optimieren. Einige Kunden geben mehr aus – sehr viel mehr – und viele Kunden geben weniger aus. Wenn Sie das verstehen, kann es den Unterschied ausmachen, ob Sie dafür zahlen, profitable Kunden zu gewinnen, oder ob Sie dafür zahlen, Kunden zu gewinnen, die Ihre Konkurrenz nicht haben wollte.»
Mit realistischem Selbstbild zu Kundengewinnung und -vertrauen
Der Digitalmarketing-Spezialist und Google weisen also darauf hin, wie wichtig es ist, den individuellen Kunden in seinen situativen Bedürfnissen zu verstehen. Doch dies ist nur eine Seite der Medaille. Genauso wichtig ist es, ein realistisches Bild zu entwickeln, welchen relevanten Nutzen das Unternehmen situativ stiften kann. Und um die Kundenansprache auch effizient zu gestalten, muss man wissen, mit welchem Nutzen man sich im Wettbewerb positiv abgrenzen kann. Werden diese Erkenntnisse in der Führung der Unternehmensmarke berücksichtigt, ist es dem Unternehmen möglich, eine deutlich höhere Relevanz zu erzielen: Es kann immer dann präsent sein, wenn die verfügbare Leistung dem Kunden besonders nützt. Aber es verschont ihn vor Informationen und Angeboten, die ihm situativ nicht relevant oder attraktiv genug erscheinen würden.
Ein Fachmann für Medienarbeit erklärte mir kürzlich, wie er dieses Prinzip im Kleinen erfolgreich anwendet. «Ich muss ganz genau wissen, welche Journalistinnen und Journalisten sich für welche Themen besonders interessieren und – noch viel wichtiger – wer sich über welche Berichterstattung besonders profilieren will. So kontaktiere ich beispielsweise eine Journalistin nur dann, wenn ein Thema wirklich gut zu ihr passt und nicht nur ihrem Medium, sondern auch ihr persönlich nützt. Die Journalistin schätzt einerseits, dass ich sie nicht ständig zutexte. Aber sie weiss auch: Wenn ich mich melde, dann liegt eine wirklich gute Geschichte drin. So entsteht ein Vertrauensverhältnis, von dem wir beide profitieren. Ich muss also die Bedürfnisse und Interessen von Journalistinnen und Journalisten so gut kennen, dass ich weiss, wann eine Geschichte für wen relevant ist. Und natürlich muss ich mir immer vergegenwärtigen, in welchen Themenbereichen ich auch glaubwürdig bin, wo ich mir Glaubwürdigkeit erst erarbeiten muss und um welche Themenbereiche ich besser auch künftig einen Bogen mache, weil sie nicht zu meinem Profil passen.»
Was dieser PR-Mann in der Ansprache von vielleicht 100 Medienschaffenden anwendet, funktioniert heute dank der verfügbaren Daten auch mit mehreren 100’000 Kunden. Und mit systematischer Analyse der Unternehmens-Leistungsbereiche in Bezug auf Relevanz und Differenzierung sowie der entsprechenden Führung der Unternehmensmarke gelingt es, dem Unternehmen dort Beachtung zu verschaffen, wo sie wirkt.
Die Abkürzung über einen simplen Funnel-Mechanismus war zu schön, um wahr zu sein. Der Auf- und Ausbau von profitablen Kundenbeziehungen rutscht leider nicht locker durch einen Trichter. Wie so oft führt auch hier nicht die Abkürzung zum nachhaltigen Erfolg. So, wie es uns schon der alte Thomas Edison eingetrichtert hat; 1% Inspiration, 99% Transpiration. Gefragt sind die kontinuierliche Analyse und Abstimmung von Bedürfnis und Leistung:
Jederzeit wissen, wer was wann besonders schätzt.
Jederzeit wissen, wie man wann besonders nützt.